Sana Blaubuch
Deine Lebensklugheit hätte ich gerne. Oje, da meldet sich unser kleiner Paulinus, er hat Hunger. Ich fürchte, Großvater, wir müssen un- ser interessantes Gespräch vertagen. Aber du kommst ja in zwei Wochen nach München. Es bleibt doch dabei? Klar, ich freue mich schon. Und lass unser neues Familienmitglied nicht zu lange warten. Denn hun- gernde Kinder leben kürzer, lass dir das von einem alten Kinderarzt sagen. Tschüss, ihr Lieben! Tschüss, Großvater! Wie alt werden wir morgen? Ich schalte mein Neo-Handy aus und hänge noch einem Gedanken nach. Was ist Gesundheit für mich? Heute ist mir klar, nicht mehr die Abwesen- heit von Krankheit. Es ist die persönliche Über- nahme der Verantwortung für die bestmögliche eigene Gesundheit. Es geht also primär um eine vorausschauende Versorgung rund um die Ge- sundheit. Und vorausschauend heißt eben nicht nur die Versorgung im Krankheitsfall, sondern auch die Unterstützung, gar nicht erst krank zu werden. Ich erinnere mich noch gut an den Slogan «Gesundheit passiert im Supermarkt ». Wer einen Supermarkt betrat, wurde freundlich gefragt, ob er eine Verkaufsberatung unter Berücksichtigung seiner aktuellen Laborwerte und gesundheitlichen Risikoparameter wünschte, und an der Kasse gab es nicht mehr die Frage nach Payback-Karten oder Treuepunkten, sondern nach Credit Points der Gesundheitsversicherer. Vorausgesetzt, man hatte die richtigen Produkte in den Einkaufswagen gelegt. Die Gesundheitsversicherer schlossen in- tegrierte Versorgungsverträge mit Warenhäusern, damit ihre Versicherten einen besseren Zugang zu gesunden Lebensmitteln erhielten. Der Begriff der Supermarket-Based Medicine machte mit einem Augenzwinkern die Runde. Noch einfacher war die Auswahl gesunder Produkte für die, die ohnehin online ihre Lebensmittel bestellten. Die Online- kataloge, die auf dem Bildschirm erschienen, blendeten individuell und direkt solche Produkte aus, die der Gesundheit des eingeloggten Kunden abträglich sein konnten. Im Jahr 2051 haben wir viel erreicht in Sachen Ge- sundheit, leider gibt es auch einen Wermutstropfen. Der Wunsch nach einer gesunden Bevölkerung wurde nur zum Teil erfüllt. Denn ein Trend, der sich bereits amAnfang des Jahrhunderts abgezeich- net hatte, schlägt nun voll durch. Gemeint ist der gewaltige Anstieg der psychischen Erkrankungen. Die Arbeitswelt, die über Jahrzehnte den flexiblen Mitarbeiter gefordert und weidlich genutzt hatte, sah sich Heerscharen von ausgebrannten Menschen gegenüber. Längst waren es aber nicht mehr nur die Topmanager. Es waren Arbeiter und Angestell- te, Hausfrauen und solche, die man lange wegen ihres Gleichmuts als Lebenskünstler bezeichnet hatte. Doch das war—nach den ausgebrannten Managementetagen—erst die zweite Welle der Erkrankten. Und dieser sollte noch eine dritte fol- gen, bis unsere Gesellschaft begriff, dass es nicht gereicht hatte, übermäßige Kalorien, Nikotin, Teer und Alkohol in den Griff zu bekommen. Erst als die Diagnosestatistiken zeigten, dass Depressionen und «Der körperliche Zustand eines alten Menschen ist immer das Ergebnis dessen, was er sei- nem Körper früher zugemutet hat. Mein Motto im Alter ist: Lieber fit für den Alltag als perfekt gesund. Letzteres schaffe ich eh nicht, das Erste hingegen ist mein Ziel. » 14 E S S AY M a r k u s M ü s c h e n i c h 2 0 5 1
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