Sana Blaubuch
O r t h o p ä d i e - g e s c h i c h t e b l a u b u c h 07 Streng genommen beginnt die Geschichte der Orthopädie eigentlich erst 1741. Damals prägte der französische Arzt Nicolas Andry diesen Begriff mit einemRatgeber für Eltern: Orthopädie, oder die Kunst, bey den Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern . Das Titelbild des Buchs zeigt ein krummes Bäumchen, das mit einem Seil an einem Stab herangezogen wird—das Motiv ist noch heute international aner- kanntes Symbol der Orthopäden. Neben präventiven Maßnahmen empfahl Andry, Verkrümmungen der Wirbelsäule und der Beine durch Schienen zu korrigieren—damals ein revolutionärer Vorschlag, denn eigentlich galten Fehlbildungen als gottgegeben und nicht heilbar. Orthopädie heißt wörtlich übersetzt «gerade Kinder » (orthos + paidon). Und lange Zeit beschäftigte sich das Fachgebiet fast ausschließlich mit kindlichen Fehlbildungen wie Skoliose, Rachitis oder Klumpfuß. Auch die weltweit erste orthopädische Klinik war auf die Behandlung von körperbe- hinderten Kindern spezialisiert: 1770 eröffnet der Arzt und Orthopäde Jean- André Venel im schweizerischen Orbe das Spital mit angegliederter ortho- handlung des kranken Rückens. Außerdem ent- wickelte er martialische «Folterbänke» zur Streckung von verkrümmten Wirbelsäulen und erfand bra- chiale Handgriffe zur Einrenkung von ausgeku- gelten Schultergelenken. Während sich Hippokrates als Urvater der Orthopädie verdient machte, gilt der 500 Jahre später wirkende Galenos von Per- gamon als Begründer der Sportmedizin. Als Wund- arzt der Gladiatoren flickte er die großen und kleinen Blessuren der Wettkämpfer zusammen. Und als medizinischer Betreuer der Olympioniken ersann er Trainingspläne und überwachte den Gesundheitszustand seiner Schützlinge. Gesundheitsfürsorge, Prävention und Früh- erkennung von Störungen sind bis heute eine zentrale Aufgabe der Orthopädie. Dass sich die moderne Orthopädie hauptsächlich am Operati- onstisch abspielt, ist ein Irrglaube. Bei den meisten orthopädischen Erkrankungen ist der Griff zum Skalpell nur der allerletzte Schritt imRahmen eines Therapieplans, der erst dann zumTragen kommt, wenn nicht operative Maßnahmen keine Besse- rung bringen. Viele Erkrankungen des Muskel- Skelett-Systems können mit einemwohldosierten Bewegungsprogramm, Medikamenten oder phy- sikalischenAnwendungen therapiert werden. Noch besser: Sie treten durch kluge Vorsorgemaßnah- men gar nicht erst auf. Dank der Hüftsonografie bei Säuglingen etwa, die seit 1996 routinemäßig durchgeführt wird, ist die Zahl der Patienten mit Fehlstellungen der Hüfte schon heute rückgängig und wird in den kommenden Jahrzehnten weiter sinken. «3.000 v. Chr.: Ötzi, der 45 Jahre alte Steinzeitmann, litt an Knorpelverschleiß des rechten Hüftgelenks, der Lendenwirbel- säule und der Kniegelenke. »
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