Leipzig,
21
Mai
2023
|
19:00
Europe/Amsterdam

"Wir werden uns die heutige Versorgung nicht mehr leisten können"

Zusammenfassung

Interview der Leipziger Volkszeitung mit Sana-Vorstandsvorsitzendem Thomas Lemke über das Gesundheitswesen heute und in Zukunft, über die Krankenhausreform sowie über Ehrlichkeit in der Politik. 

Thomas Lemke

Herr Lemke, aktuell wird viel über die Krankenhausreform diskutiert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will am Dienstag seine überarbeiteten Pläne vorstellen. Schon jetzt geht die Angst vor einem Kahlschlag um – sind diese Befürchtungen gerechtfertigt?

Die Frage ist, wie man Kahlschlag definiert. Die Reformkommission spricht von einem radikalen Umbau der Versorgungslandschaft. Das bedeutet unter anderem, dass wir auf Basis des vorliegenden Konzeptes von aktuell 1.900 Kliniken etwa 600 bundesweit in eine Art Ambulatorium umbauen. Für den einzelnen Betroffenen ist die entscheidende Frage: Werde ich weiterhin gut medizinisch versorgt? Die Ängste vor einem Kahlschlag sind entstanden, weil die Politik viel zu wenig kommuniziert hat, was das Ziel dieser Reform ist und was die Umbauschritte bedeuten. Deshalb ist bei vielen Menschen die sehr nachvollziehbare Sorge entstanden, dass die wohnortnahe Versorgung erheblich eingeschränkt werden soll.

Was kommt also auf die Menschen zu?

Fakt ist: In absehbarer Zeit – in fünf bis zehn Jahren – werden wir die Versorgung, wie wir sie heute noch kennen, nicht mehr aufrecht erhalten können. Es werden uns schlichtweg die Hände fehlen. Selbst wenn wir uns über alle Maßen bemühen, wird es nicht ausreichend Ärzte und Pflegekräfte geben. Hinzu kommt: Gerade in ländlichen Regionen wohnen und arbeiten zusehends weniger Menschen. Deshalb müssen wir andere Versorgungsstrukturen aufbauen. Ein solches Umdenken wird nicht einfach werden.

In Sachsen gibt es 78 Krankenhäuser. Laut Berechnungen der hiesigen Krankenhausgesellschaft sind das im Pro-Kopf-Vergleich zu westdeutschen Bundesländern relativ wenig. Legt man den Bundesmaßstab an, müsste es hier 96 Kliniken geben. Stehen dennoch Kliniken in Sachsen auf der Kippe?

Generell haben die neuen Bundesländer ihre Hausaufgaben deutlich besser gemacht als viele westdeutsche Länder. So hat Sachsen schon in den 1990-er Jahren mutige Reformen umgesetzt, auch Standorte geschlossen oder zusammengelegt. Das größte Problem sind zurzeit überversorgte Länder vor allem im Westen. Der entscheidende Punkt der geplanten Reform ist aber: Einheitliche finanzielle Spielregeln für alle – bei dieser Gleichmacherei werden keine regionalen Unterschiede gemacht. Deshalb ist die Reform nicht im Sinn der Patienten. Gleichwohl werden in Sachsen die Veränderungen im Vergleich zu anderen Bundesländern geringer ausfallen.

Der sächsische Ministerpräsident und die Sozialministerin haben immer wieder betont, für den Erhalt kämpfen zu wollen. Wie aussichtsreich kann ein solches Unterfangen überhaupt sein?

Politische Aussagen sind das Eine – doch wir sind nicht bei „Wünsch dir was“ und die Realität wird uns alle einholen. Unabhängig von der Lauterbach-Reform haben wir in Sachsen ca. zehn bis zwölf Klinken, die unter modernen, bedarfsgerechten Strukturen in der klassischen Ausrichtung nicht mehr zu halten sein werden. Das liegt am Personalmangel und auch an einer Krankenhaus-Dichte, für die es aufgrund der rückläufigen Bevölkerung in ländlichen Gebieten keine Rechtfertigung mehr gibt. Deshalb sollten alle ehrlich sein.  

Die Menschen zieht es in Sachsen zwar in die Großstädte – doch insgesamt werden die Menschen älter. Gerade deshalb müsste doch eigentlich die medizinische Versorgung verbessert werden?

Genau darum geht es. Wir haben in Sachsen viele Regionen, in denen die weitere Versorgung unbedingt sichergestellt werden muss, etwa das Erzgebirge, das Vogtland, die Lausitz oder auch Teile Mittel- und Nordsachsens. Die großen Häuser können nicht alles übernehmen – und den Menschen muss, soweit es geht, vor Ort geholfen werden. Deshalb brauchen wir gerade in diesen ländlichen Regionen attraktive Bedingungen, damit Ärzte und Pflegekräfte überhaupt dort arbeiten und leben wollen. Das ist eigentlich die größte Herausforderung.

Wie soll diese Versorgung dann aber aussehen?

Was die meisten Menschen nicht wissen: Deutschland ist weltweit das einzige Land, dass sich einen ambulanten und einen stationären Bereich nebeneinander leistet. Das bedeutet, dass wir immer die doppelte Ressource vorhalten müssen – um ein einziges medizinisches Problem zu lösen. Doch in den nächsten Jahren werden 50 Prozent der Fachärzte in den Ruhestand gehen. Das heißt: Wir werden gar nicht umhinkommen, neue Lösungen zu finden und beide Bereiche zu verbinden. Die Strukturen werden sich zuerst an der Notfallversorgung ausrichten müssen – denn hier geht es um die persönliche Betroffenheit, um die Ängste von Menschen, im Notfall schnell und gut versorgt zu werden. Hinzu kommt eine Grundversorgung. Diese beiden Punkte müssen das A und O sein.

Das neue sächsische Krankenhausgesetz sieht eine Gliederung in Basis-, Spezial- und Maximalversorger vor. Ein Stichwort lautet Gesundheitszentren, dass stark an die früheren Polikliniken erinnert – ist das die Zukunft?

So könnte es sein. Aus der DDR kennen viele Menschen noch die Polikliniken, die auch eine Durchlässigkeit zwischen dem ambulanten und stationären Bereich garantierten. Die Macht des Faktischen wird darauf hinauslaufen, dass in den nächsten Jahren eine neue Art Poliklinik entsteht. Nur so können wir die Versorgung in weiten Landstrichen überhaupt noch gewährleisten.

Erst vor wenigen Tagen mussten die Muldentalkliniken vom Landkreis Leipzig mit einem Zuschuss von zehn Millionen Euro gerettet werden. Werden insbesondere kleinere Häuser künftig solche Überlebenshilfen brauchen?

Das ist eines der Grundprobleme, die wir heute hundertfach in der Kliniklandschaft Deutschlands erleben. Ich verstehe jeden Bürgermeister und jeden Landrat, der sich vor strukturellen Veränderungen bei Krankenhäusern scheut. Doch daran wird kein Weg vorbeiführen. Der finanzielle Not-Topf von den Kommunen ist keine Lösung. Die meisten gemeinnützigen und privaten Krankenhäuser, die immerhin zwei Drittel der gesamten Versorgung ausmachen, haben diese Chancen auch gar nicht.

Was schlagen Sie vor?

Ehrlichkeit. Es wird in den nächsten Jahren unausweichlich sein, Veränderungen einzuführen – und diese müssen den Menschen erklärt werden. Dazu gehört Mut und damit lassen sich wahrscheinlich keine Wahlen gewinnen. Doch der Trend wird dahin gehen, das Ich-bezogene Denken in Städten und Landkreisen abzulegen. Dieser Egoismus wird nicht zu finanzieren sein. Die Zukunft liegt in Kooperationen, um den Menschen möglichst viele, aber auch unterschiedliche Angebote machen zu können.

Letztlich heißt das aber auch: Auf die Patienten werden weitere Wege zukommen.

Das wird vom Fall abhängen. Die Not- und die Basisversorgung muss nahe am Wohnort sein – aber spezielle Eingriffe, etwa Knie- und Hüftprothesen oder Herzkatheter, wird es gegebenenfalls weiter entfernt geben. Wenn es also um planbare Operationen geht, können es 50 bis 100 Kilometer sein. Dabei stehen wir auch vor einem soziokulturellen Problem: Die meisten Menschen wollen nahe am Wohnort operiert werden, weil dort auch ihre Angehörigen sind, die sich kümmern können. In diesen Fällen müssen wir umdenken, denn es geht zuerst um eine gute medizinische Versorgung.

Müssen laut Grundgesetz die Lebensbedingungen nicht überall gleich sein?

Das stimmt. Deshalb müssen wir die Diskussion mit den Menschen führen, wie wir ihre medizinische Versorgung am besten organisieren können. Daran schließt sich die Frage an: Wie lösen wir die Mobilitätsfrage? Operierte müssen beispielsweise zur Nachbetreuung, brauchen Reha und anderes. Das muss dann am Wohnort passieren und dafür benötigen wir künftig die Strukturen. Letztlich muss es egal sein, ob jemand an seinem Wohnort operiert wird oder 50 bis 100 Kilometer weiter weg – wenn das Mobilitätskonzept stimmt.

Ein Vorwurf an die Kliniken ist auch immer wieder, dass zu viel operiert wird. Wie lassen sich die steigenden OP-Zahlen rechtfertigen?

Zunächst einmal: Es wird nicht zu viel operiert. Richtig ist aber, dass die Kliniken nur Geld bekommen, wenn sie Patienten behandeln. Das sind die sogenannten Fallpauschalen. Deshalb läuft das System momentan so: Je mehr Patienten in einem Krankenhaus sind, desto mehr Einnahmen werden generiert. Doch der Vorwurf, dass deshalb auch unnötige Operationen durchgeführt werden, greift nicht. Es gibt keine seriösen Studien, die das belegen. Ein positiver Effekt der geplanten Reform ist, dass das Vorhalten einer bestimmten Bettenzahl und Notversorgung finanziert wird, unabhängig von den Patientenzahlen.

Das bedeutet aber auch: Operationen sind heute durchaus noch lukrativ.

Bei dieser Diskussion wird gern vergessen: In Deutschland gibt es einen unlimitierten Zugang zu medizinischer Versorgung – und das jeden Tag. Für uns ist es selbstverständlich, dass auch ein 90-Jähriger ein Recht darauf hat, etwa ein Herzkatheter oder eine neue Hüfte zu bekommen. In anderen europäischen Ländern gibt es Altersgrenzen, ab der Patienten auch mitbezahlen müssen. Man muss nur nach Großbritannien schauen. Ich bin dafür, dass wir unser System aufrechterhalten – gleichzeitig muss dann allen klar sein, dass wir uns aufgrund der Bevölkerungsentwicklung auf steigende Fallzahlen einstellen müssen. 

Dennoch gibt es auch weiterhin Kritik an der geplanten Finanzierung.

Tatsächlich bleiben bei der Reform weiterhin zwei große Themenfelder offen. Das betrifft zum einen die Finanzierung sowohl der Reform selbst als auch der neuen Strukturen. Die Vorstellung, dass das Geld aus dem System selbst kommt, ist nicht zu halten. Wer mit einem solchen Ansatz in die Reform geht, wird die Menschen verlieren – die notwendigen Veränderungen sind damit zum Scheitern verurteilt. Ungelöst ist auch, wie die Bereiche ambulant und stationär miteinander verflochten werden können. Außerdem ist unklar, wie weit die Länder noch selbst planen dürfen – möglicherweise greift der Bund viel zu stark ein. 

Die Länder fordern nicht nur mehr Freiheiten für ihre Klinikplanung, sondern auch ein Verschieben auf 2026. Was meinen Sie, wann die Reform letztlich umgesetzt wird?

Der Zeitplan ist schon längst ins Rutschen gekommen. Aktuell werden erst einmal die politischen Leitlinien diskutiert. Der große Akt kommt aber erst noch: die Umsetzung. Es steht zu befürchten, dass es mit Blick auf die wirtschaftliche Situation vieler Krankenhäuser bei einem Beginn der Reform gar nicht mehr genügend Krankenhäuser gibt, um die geplanten Veränderungen überhaupt einzuführen.

Warum dauert es so lange, eine solche Reformen an den Start zu bringen?

Vor Beginn der Ampel-Regierung war ich optimistisch, da man sich als zukunftsorientiert bezeichnet hat. Dazu müsste aber auch gehören, Hinweise von Praktikern aufzunehmen. In dieser Beziehung tut sich die Politik unendlich schwer. Doch wir stellen den Transmissionsriemen zwischen den politisch-idealistischen Vorstellungen in Berlin und der Umsetzung vor Ort dar. Klar ist: Ein Minister setzt keine Reform um – es sind die Kliniken mit ihren Beschäftigten. 

Dieses Interview ist am 21. Mai 2023 in der Leipziger Volkszeitung erschienen