Ismaning,
25
März
2024
|
08:14
Europe/Amsterdam

Dinge infrage stellen, nach Lösungen suchen, offen sein für Neues

Zusammenfassung

Sana-Vorständin Stefanie Kemp im Interview mit dem Lünendonk-Magazin über die Notwendigkeit, Prozesse zu überarbeiten, und die Aufholjagd bei der Digitalisierung

Lünendonk: Frau Kemp, Sie sind Vorstandsmitglied und Chief Transformation Officer der Sana Klinken. Die Sana Kliniken AG ist sowohl eine der größten Klinikgruppen in Deutschland als auch ein integrierter Gesundheitsdienstleister in der Spitzenmedizin. Was bedeutet das genau? Welche Leistungen sind hier 
beinhaltet? 

Stefanie Kemp: Meine berufliche Laufbahn habe ich als Kinderkrankenschwester begonnen. Dann habe ich diverse leitende Funktionen in der IT-Branche innegehabt und bin nun seit rund anderthalb Jahren bei Sana. In einem der ersten Workshops haben wir ein Postulat aufgestellt: Wir wollen den Menschen keine Lebenszeit wegnehmen. Das bedeutet natürlich einerseits die medizinische und pflegerische Exzellenz, die Lebenszeit verlängert, es bedeutet aber vor allem: Wir wollen niemanden mit Doppeluntersuchungen belasten, niemanden den Aufnahmebogen zum x-ten Mal ausfüllen lassen und auch niemanden lange auf Termine oder Untersuchungen warten lassen. 

Dabei kommt es ganz viel auf die Prozesse in den Krankenhäusern an. Immer wichtiger wird das Zusammenspiel aller Bereiche der Gesundheitsversorgung. Das umfasst die Prävention und geht über die ambulante Versorgung in einem medizinischen Versorgungszentrum oder beim niedergelassenen Arzt oder der Ärztin bis hin zum Krankenhaus. Und danach geht es noch weiter – gegebenenfalls über ein effizientes Entlassmanagement sowie Heil- und Hilfsmitteln Das spiegelt sich auch in der Strategie von Sana wider – und letztlich in unseren Aktivitäten. Wir sind längst nicht mehr nur ein Klinikkonzern, sondern einer der größten Anbieter ambulanter Versorgung. Und die Palette reicht noch weit darüber hinaus.

Lünendonk: Als Chief Transformation Officer kennen Sie alle relevanten Meilensteine in der Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft. Wo stehen wir bei der Transformation des Gesundheitssektors? 

Stefanie Kemp: Als man mich im vergangenen Jahr nach einem Eingriff aus dem Krankenhaus entließ, wurden mir einige DVDs mit den Befunden mitgegeben. Das ist zwar digital, entspricht aber dem Grad der Digitalisierung der späten 90er-Jahre. Das ist niemandem in der Klinik anzulasten, aber wir agieren in einer Systemlogik, die die Digitalisierung nicht gerade befördert. Ein Beispiel: Wir könnten Menschen, die etwa nach einer Operation noch überwacht werden müssen, auch nach Hause schicken. Dazu würden wir ihnen ein mit Sensoren ausgestattetes Pflaster auf die Brust kleben, das die wesentlichen Vitaldaten erfasst. Diese würden ans Krankenhaus übertragen. Sollten sich Werte dramatisch verändern, würde die betreffende Person einbestellt. So wären Patientinnen und Patienten früher in ihrer gewohnten Umgebung, das relativ teure Krankenhausbett würde nicht benötigt, die Versorgung wäre gesichert. Aber derartige Innovationen sind derzeit nicht in der Finanzierungslogik vorgesehen. 

Stefanie Kemp

Allgemein muss man zum Stand der Digitalisierung leider feststellen: Der Rückstand der Gesundheitsbranche verglichen mit weiteren Teilen der Industrie beträgt etwa zwei Jahrzehnte. Auch im internationalen Vergleich liegt Deutschland hinten. Gleichzeitig stehen wir aber vor dramatischen demografischen Veränderungen. Das führt zu weniger Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften bei einer gleichzeitig älteren und krankheitsanfälligeren Gesellschaft. 

Was also tun? Da gibt es zwei Ansätze. Erstens: Der bürokratische Aufwand muss deutlich reduziert werden. Rund ein Drittel der Arbeitszeit verbringt das medizinische und pflegerische Personal derzeit mit Administrations- und Bürokratietätigkeiten. Zweitens: Es braucht andere Prozesse, die durch digitale Lösungen unterstützt werden. Den Bürokratieabbau haben wir nicht selbst in der Hand, bei der Digitalisierung können wir jedoch viel bewegen. Aber das muss schnell kommen, bis Ende dieses Jahrzehnts, und das sind nur noch sechs Jahre, um 20 Jahre Rückstand aufzuholen – ansonsten überrollt uns der demografische Wandel. 

Lünendonk: Welche Technologien haben Ihrer Meinung nach derzeit die größte Bedeutung im Gesundheitswesen? 

Stefanie Kemp: Sie fragen sicherlich nach der Künstlichen  Intelligenz. Aber ich antworte erst einmal mit einem zwei Jahrzehnte alten Klassiker, der elektronischen Patientenakte. Sie ist wichtig, um endlich voranzukommen. Hier ist in der konkreten Umsetzung noch viel zu tun, aber es ist gut, dass sie nun endlich kommt. Und ich begrüße auch ausdrücklich die Diskussion um den Datenschutz in diesem Zusammenhang. Datenschutz ist meines Erachtens eher ein Standortvorteil als ein Nachteil. Man muss ihn nur von Anfang an mitdenken und die Kolleginnen und Kollegen nicht erst einbinden, wenn Produkte quasi fertig sind. 

Von elementarer Bedeutung wird ferner sein, die zentralen Systeme im ambulanten und stationären Bereich in die Cloud zu transferieren. Die intersektorale Vernetzung, also zwischen ambulant und stationär, wird durch die Cloud viel einfacher und schneller. Das wird aber nur funktionieren, wenn wir unsere Kernsysteme, also die Krankenhausinfomations- und die Patientenverwaltungssysteme, darauf ausrichten. Und wenn wir diese Hausaufgaben bewältigt haben, dann ist die Basis geschaffen, dass KI ihre Wirkungen entfalten kann. Das hindert uns aber nicht, jetzt schon bestimmte KI-Anwendungen einzusetzen. 

Lünendonk: Welche dieser Technologien werden bei Ihnen im Konzern bereits flächendeckend genutzt? 

Stefanie Kemp: Wir arbeiten intensiv daran, eine neue Plattform zu etablieren, an die wir unterschiedliche Systeme andocken können. Dabei handelt sich unter anderem um bestehende Abrechnungssysteme oder Anwendungen für Terminvereinbarungen oder fürs Entlassmanagement. Wir wollen eine Software, die State of the Art ist, ohne Altlasten. 

Und wir wollen eine Plattform, auf der wir unsere Prozesse sinnvoll abbilden können – sei es im Krankenhaus oder ambulant. Es geht uns um die Patient Journey, den Patientenpfad durch die Gesundheitsversorgung. Die Plattform muss cloudbasiert und für Anwendungen Dritter, also Microservices, offen sein. Und letztlich geht es bei einem Konzern mit mehr als 40 Krankenhäusern und einer Vielzahl medizinischer Versorgungszentren auch um Skalierbarkeit. Momentan erproben wir die neue Plattform bei drei unserer Krankenhäuser. 

Lünendonk: Digitale Technologien sind immer nur so gut, wie sie auch genutzt werden. Wie mussten sich die internen Prozesse und das Mindset bei Ihnen im Konzern verändern, um die Nutzung und damit auch die Mehrwerte zu ermöglichen? 

Stefanie Kemp

Stefanie Kemp: Ich werde nicht müde, immer wieder zu betonen: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Deshalb geht es im ersten Schritt nicht um Technik. Es geht darum zu verstehen, wie die Arbeit sinnvoll organisiert wird. Wir schauen uns die Prozesse an. Erst dann erfolgt die Frage nach der dazu passenden Technik. Viel zu lange sind die Prozesse nach der vorhandenen Technik modelliert worden. Eine Stationsleiterin in Düsseldorf hat mir mal gezeigt, wie sie bestimmte Pflegedokumentationen in die Systeme eingeben muss. Ihre Quintessenz: Das könnte alles viel effizienter laufen, wenn sie den Prozess selbst bestimmen könnte. 

Und das ist genau das Mindset, das wir brauchen und fördern: Dinge infrage stellen, nach Lösungen suchen, offen sein für Neues. Ja, wir brauchen ein digitales Mindset. Ich stelle allerdings auch fest, dass ein solches vielerorts bereits vorhanden ist – teils aus purer Not, weil die Kolleginnen und Kollegen mit den aktuellen Prozessen oftmals unzufrieden sind. Sie sehnen sich nach Veränderung. 

Lünendonk: Im Jahr 2020 trat das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) in Kraft, um die Digitalisierung und die Vernetzung innerhalb der Krankenhäuser voranzutreiben. Dazu gehört auch die elektronische Patientenakte, um eine Digitalisierung über die gesamte Patient Journey hinweg zu ermöglichen. Welche Chancen sehen Sie in der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und welche Rolle spielt sie für die Sana Klinken? 

Stefanie Kemp: Wir wollen deutlich weiter gehen und den gesamten Prozess digitalisieren. Ein Beispiel: Startpunkt ist die digitale Terminvereinbarung. Weiter geht es über die Anamnese, die auch schon in weiten Teilen zu Hause stattfinden könnte – eventuell telemedizinisch unterstützt. Wenn man ins Krankenhaus kommt, weiß man vorab, welches Zimmer für einen vorgesehen ist, wie der Tag strukturiert ist und das Mittagessen ist auch schon ausgewählt. Alle Pflegekräfte wie auch die Ärztinnen und Ärzte sind über die Patientin oder den Patienten bestens informiert, alle Daten liegen vor. Und auch nach einer Behandlung wird der Arztbrief weitgehend automatisiert erstellt und liegt pünktlich digital vor. Keiner muss mehr mit DVDs, auf denen die Aufnahmen gespeichert sind, nach Hause gehen. Der weiterbehandelnde Arzt beziehungsweise die Ärztin ist informiert und die Terminvereinbarung ist auch schon erfolgt. 

Lünendonk: Um die elektronische Patientenakte einzuführen, sind vollständige, strukturierte Daten sowie eine durchgängige Datenarchitektur erforderlich. Dabei gewinnt schnell das Thema Datensicherheit und Regulatorik an Relevanz. Oftmals lassen sich Datenvorfälle aber nicht vollständig verhindern. Wie ist Ihre Einschätzung dazu? 

Stefanie Kemp: Wir haben unter anderem zwei neue Einheiten geschaffen: den Chief Data Analyst und den Lead Enterprise Architect. Wir sitzen auf potenziell sehr aufschlussreichen Daten. Es gilt aber, den Zugang dazu zu schaffen und diese Daten als Ressource nutzbar zu machen. Damit dies gelingen kann, braucht es eine richtige Architektur und ein Datenökosystem. Die Vision ist: All diejenigen, die Entscheidungen treffen, haben Zugriff auf die Daten in der richtigen Form, zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Qualität. 

Dabei haben wir im Blick: Es gibt kaum etwas Sensibleres als Gesundheitsdaten. Diese vor Missbrauch zu schützen ist oberste Maxime. Auch hier kommt der richtigen Architektur eine tragende Rolle zu – auch mit Blick auf den Datenschutz. Wird dieser nämlich von Anfang an mitgedacht und nicht erst am Ende, wird er zum Gestalter. Ich will immer wissen, was geht, und nicht, was nicht geht. 

Lünendonk: Wie gehen die Sana Klinken bei zunehmender Digitalisierung mit Datenschutz und Regulatorik um? 

Stefanie Kemp

Stefanie Kemp: Wir sind – wie alle anderen Krankenhäuser und Unternehmen – täglichen Angriffen auf unsere IT ausgesetzt. Dagegen wehren wir uns selbstverständlich mit allen verfügbaren Mitteln. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass wir unverwundbar wären. Deshalb gilt es eben, auch dafür vorzusorgen, dass bei einem Vorfall die Schäden so gering wie möglich bleiben. 

Wir verstehen IT-Sicherheit als integriertes Managementsystem. Das funktioniert nur dann, wenn Datenschutz, Qualitätsmanagement, Compliance, Risikomanagement und IT-Governance an einem Strang ziehen. Gleichzeitig dürfen Entscheidungsprozesse nicht „overengineered“ und zu komplex sein. Ansonsten werden Innovationen negativ beeinflusst, man verliert den Anschluss zum Markt und zum Kampf gegen Cyberkriminalität. 

Lünendonk: Viele Unternehmen und öffentliche Einrichtungen haben das Ziel, die digitale Transformation voranzutreiben, sind aber aufgrund veralteter IT-Systeme, fehlender Fachkräfte und geringer Budgets nicht in der Lage dazu. Welche weiteren Behinderungsfaktoren sehen Sie für die Digitalisierung in der Gesundheitsbranche? Welche neuen Anforderungen entstehen dabei für die Dienstleister? 

Stefanie Kemp: Bei veralteten IT-Systemen gebe ich Ihnen recht. Das Thema „fehlende Fachkräfte“ wird durch KI gerade gedreht. Geringe Budgets: Wir haben zum Glück mit den privaten Krankenversicherungen Eigentümer, die in die Zukunft investieren. Zudem greift momentan noch das Krankenhauszukunftsgesetz, mit dem Bund und Länder 4,3 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Aber nach einer Anschubphase bleiben die laufenden Kosten für die IT. Diese müssten nach unserem Verständnis über die Fallpauschalen entgolten werden – dem ist aber nicht so. 

Eine große Barriere stellt die Regulatorik dar. Zwei Beispiele: Bislang hat es kein ausländischer Anbieter geschafft, mit einem Krankenhausinformationssystem auf dem deutschen Markt in nennenswertem Umfang Fuß zu fassen. Gleichzeitig macht es die Regulatorik unglaublich aufwendig, bestehende Systeme zu modernisieren. Alles in allem wird Innovation gehemmt. Zweitens: Die europäische Richtlinie für Medizinprodukte verlangt neue Zertifizierungsverfahren. Die Folge ist, dass eingeführte Produkte vom Markt genommen werden, weil die Rezertifizierung zu teuer wird. 

Lünendonk: Durch die digitale Transformation ändern sich auch die Prozesse und Rollen innerhalb einer Organisation. Die IT und die Fachbereiche stehen vor neuen Herausforderungen und Aufgaben. Welche organisatorischen Änderungen haben sich bei den Sana Klinken durch neue Technologien und die Digitalisierung von Prozessen ergeben? 

Stefanie Kemp: Zuerst zwei weiche Faktoren: Wir sind schneller geworden, haben Entscheidungen dorthin verlagert, wo auch die Kompetenz sitzt. Und wir arbeiten an einer Fehlerkultur und auch daran, nicht alles perfekt zu machen, sondern auch mal mit 80-Prozent-Lösungen zu starten – selbstverständlich nicht, wenn es um Patientensicherheit geht; da müssen es 100 Prozent sein. 

Organisatorisch haben wir die Einheit für Datenschutz und Datensicherheit beibehalten. Neu hinzugekommen sind Einheiten für Strategie und für IT-Architektur und ein Datenökosystem. Deutlich aufgewertet haben wir die Information Security – sowohl in den Kompetenzen als auch bezüglich der Teamstärke. Der wesentliche Umbau betraf das Kerngeschäft: Die Sana IT GmbH fokussiert sich heute aufs laufende Geschäft. Ausgegliedert wurde alles, was Change bedeutet. Deshalb haben wir die neue Einheit „Sana change it!“ genannt – bewusst mit Ausrufezeichen und „change“ als Verb. Wir wollen verändern. 

Lünendonk: Dabei bedeutet digitale Transformation nicht allein die Einführung neuer Technik. Die Unternehmenskultur und das entsprechende Mindset der Mitarbeitenden ist essenziell, damit die digitale Transformation gelingt. Wie schaffen es die Sana Klinken, das richtige Mindset unter den Mitarbeitenden zu erzeugen? 

Stefanie Kemp: Das muss von oben, vom Vorstand kommend, vorgelebt werden. Es ist aber nicht nur unsere Aufgabe, sondern Ausdruck unseres neuen Führungsverständnisses. Wir wollen eine positive Fehlerkultur als integralen Bestandteil des Lernprozesses und die Bereitschaft, Neues zu wagen. Das sind entscheidende Elemente einer erfolgreichen Transformation. Zudem bieten wir auch Kurse an und haben Lernkonzepte umgestellt – viel intuitiver und innovativer als bislang. 

Lünendonk: Zum Schluss möchten wir Sie gerne nach Ihrer Vision für den Gesundheitssektor fragen. Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, welche wären das? 

Stefanie Kemp: Alle Akteure eint das Verständnis: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Alle begreifen Gesundheit als umfassenden Prozess – mit Prävention, Hausärztinnen und - ärzten, Krankenhäusern –, in dem es möglich ist, einfach von einem zum Nächsten zu wechseln. Die Fesseln für Innovationen sollten fallen – es gibt so viele tolle Ideen und Produkte, um unsere Gesundheit zu stärken, aber leider noch viel zu viele Barrieren. Wir brauchen ein barrierefreies Gesundheitssystem. 

Lünendonk: Vielen Dank für das Gespräch.