München,
11
Dezember
2023
|
21:37
Europe/Amsterdam

Krankenhausreform: „Im deutschen Gesundheitssystem misstraut jeder jedem“

Interview von Sana-Vorstandsvorsitzendem Thomas Lemke in der Süddeutschen Zeitung

Zusammenfassung

Thomas Lemke, Chef der Sana-Kliniken und Vizepräsident der deutschen Krankenhausgesellschaft, hält das deutsche Gesundheitssystem für kaputt. Die Reformpläne der Bundesregierung lehnt er dennoch ab. 

Thomas Lemke sitzt im Hauptstadtbüro der SZ und möchte einiges loswerden. Lemke, 54, ist Vorstandschef des Klinikkonzerns Sana und Vizepräsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft. In beiden Funktionen ärgert er sich: über die Bürokratie, über das Image seiner Branche - und über den Gesundheitsminister.

SZ: Herr Lemke, Ihr Konzern hat 2022 drei Milliarden Euro Jahresumsatz und einen Millionengewinn erwirtschaftet. Ist es anständig, mit kranken Menschen so viel Geld zu machen?

Thomas Lemke: Zunächst muss man sagen, dass von diesen drei Milliarden Umsatz unterm Strich nur ein mittlerer zweistelliger Millionenbetrag als Gewinn bleibt. Und für dieses Geld erbringen wir ja eine Leistung, wir versorgen Patientinnen und Patienten in allen Ecken dieser Republik und sind auch im Ausland aktiv. Das ist eine enorme Verantwortung. Aber ich verstehe natürlich, worauf Sie hinaus wollen. Die große moralische Frage. Die berühmte Ethik.

Wie lautet die Antwort?

Interessanterweise wird mir diese Frage immer nur in Deutschland gestellt. Ich war gerade auf einer Konferenz, bei der sich Vertreter aus unterschiedlichen Ländern zu den aktuellen Entwicklungen in den Gesundheitssystemen ausgetauscht haben. Da kamen wir alle zu dem Ergebnis, dass Innovation und Versorgungsqualität dort am besten funktionieren, wo Anreizsysteme implementiert sind. Und dort, wo man planwirtschaftlich vorgeht, wo der Staat alles regelt und es keine wettbewerblichen Anreize gibt, ist die Versorgungsqualität deutlich geringer. Daraus ergibt sich die Antwort auf Ihre Frage. Wirtschaftlichkeit bringt bessere Versorgungsqualität für die Patienten und nutzt Ressourcen effizienter.

 

Thomas Lemke

Gibt es eine Grenze, einen moralisch angemessenen Maximalgewinn?

Mit dem Vorwurf, zu viel Geld zu verdienen, werden immer nur die Klinikketten konfrontiert. Niemand würde auf die Idee kommen, Ärzten, Medizintechnik- und Pharmaunternehmen oder sonst irgendwem, der im Gesundheitssektor aktiv ist, das Recht abzusprechen, für seine Arbeit auch ordentlich entlohnt zu werden.

…das stimmt nicht immer...

Geld und damit Gewinn sind der Treibstoff des Fortschritts und der Veränderung. Trotzdem kann man sich als Gesellschaft natürlich darauf einigen, was angemessen ist und was nicht. Nehmen Sie das Beispiel der Bundesnetzagentur zur Mobilisierung von privatem Kapital für die Netzinfrastruktur. Da legt der Regulator fest, was eine angemessene Rendite sein könnte. Für den Gesundheitssektor wäre das sogar von Vorteil.

Wieso?

Das deutsche Gesundheitswesen ist in einer prekären Lage. Es gibt einen enormen Investitionsstau. Um das zu bewältigen, brauchen wir auch privates Kapital. Und mit einer klaren Renditeerwartung wird der ganze Sektor natürlich viel attraktiver für Geldgeber. Und die brauchen wir dringend, denn es geht in Deutschland rasant bergab. Der Staat hat es bisher nicht geschafft und wird es bei den aktuellen Rahmenbedingungen auch künftig nicht schaffen.

Ist das deutsche Gesundheitssystem wirklich in einem so schlechten Zustand?

Der unbegrenzte Zugang zur medizinischen Versorgung ist einmalig, und das ist auch gut so. Wir geben in Deutschland etwa 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitssystem aus, so viel wie kaum ein anderes Land. Aber was bekommen wir dafür? In den OECD-Rankings sind wir nur noch Durchschnitt. Das sagt doch schon alles: Das System ist unglaublich bürokratisch, überreguliert und damit ineffizient. Zudem leisten wir uns Doppelstrukturen in der Versorgung, dazu die dramatischen Mängel bei der Digitalisierung. Wenn Sie bei einer internationalen Konferenz sind und sagen, Sie kommen aus Deutschland - da ernten Sie Kopfschütteln und mittlerweile auch Mitleid.

Der Bundesgesundheitsminister will eine grundlegende Reform des Systems. Die Krankenhausgesellschaft, deren Vizepräsident Sie sind, legt sich seit Monaten quer. Wollen Sie gar keine Verbesserung?

Herrlich - jene, die die planwirtschaftlichen Ansätze des Ministers kritisieren, sind demnach wohl die Querulanten. Selbstverständlich wollen wir eine Reform. Es geht aber darum, das System sinnvoll zu reformieren und nicht mit wildem Aktionismus und einer Kopf-durch-die-Wand-Politik alles nur schlimmer zu machen. Man muss sich anschauen: Was sind die Gründe für diesen Absturz Deutschlands in den OECD-Rankings?

Und was sind die Gründe?

Einer ist, das gehört zur Selbstreflexion dazu, dass die vielen Mittel, die wir in das System einspeisen, natürlich auch Akteure anziehen, die versuchen, sich selbst zu optimieren.

Alle sind aufs Geld aus?

Im Gesundheitswesen finden Sie eine intrinsische Motivation, wie wohl in keiner anderen Branche, aber ja: Alle wollen auch angemessen entlohnt werden - die Apothekerin, die Pharmafirma, der niedergelassene Arzt und der Pfleger in unserem Krankenhaus. Das Problem ist vor allem strukturell. Wir sind das einzige Land der Welt, dass sich derartige Doppelstrukturen leistet: Einen gesamten ambulanten Sektor und einen stationären Sektor. Ein Patient geht bei uns zuerst mal zum Hausarzt. Der schickt ihn zum Kardiologen. Der Kardiologe entscheidet, ob er den Patienten selbst behandelt oder ins Krankenhaus schickt. Wenn er ins Krankenhaus kommt, heißt es, wir machen ein MRT und alle anderen Untersuchungen noch mal von vorn. Es werden doppelte und dreifache Ressourcen in Anspruch genommen. Man muss die komplette Behandlungskette neu strukturieren, statt einfach zu sagen, wir schreiben jedem einzelnen Krankenhaus vor, welche Leistungen es anbieten darf und welche nicht.

Ist das alles?

Nein, das zweite Problem ist, dass die Länder ihren Investitionsverpflichtungen nicht nachgekommen sind. Das ist eigentlich klar geregelt: Das Geld für den laufenden Betrieb eines Krankenhauses, also für die Behandlungen, kommt von den Krankenkassen. Die Investitionen zahlen die Länder. Das haben die aber jahrelang vernachlässigt, mit dem Ergebnis, dass viele Träger mit den Einnahmen, die für den laufenden Betrieb gedacht sind, auch die Investitionen stemmen mussten. Und jetzt wundern wir uns, warum das System kurz vor dem Zusammenbruch steht.

 

Thomas Lemke

Was würden Sie tun?

Neben den Strukturveränderungen ist das Wichtigste, dass wir die Kultur des Misstrauens überwinden. Im deutschen Gesundheitssystem misstraut jeder jedem. Deshalb gibt es mittlerweile so viele Regeln, dass uns die Bürokratie über den Kopf gewachsen ist. Als es während der Pandemie darum ging, bestimmte Vorgaben außer Kraft zu setzen, damit wir das System am Laufen halten konnten, hatte im Bundesgesundheitsministerium kaum mehr einer den Überblick, welche Paragraphen denn dafür überhaupt ausgesetzt werden müssen. Das System ist Wahnsinn. Niemand blickt da noch vollständig durch.

Aber ohne Regeln geht es ja auch nicht.

Aber mit weniger Regeln ginge es. Lassen Sie uns beim Beispiel der Pandemie bleiben. Da hat man dann gesehen, dass doch alle zusammenarbeiten können, wenn es hart auf hart kommt. Dass man sich nicht gegenseitig belauern muss, sondern dass man alle an einen Tisch bringen und einfach schauen kann: Was brauchen wir, und wie kommen wir dorthin?

Machen Sie es doch mal ein bisschen konkreter.

Man kann doch sagen: Das ist unser Ordnungsrahmen, das ist das gesellschaftliche Ziel. Dann implementiert man Anreizsysteme, die jene Leistungserbringer belohnen, die Versorgung qualitativ hochwertig und rund um die Uhr aufrechterhalten. Dazu gehört, dass Lösungen nicht durch behördliche Regelungen gefunden werden, sondern durch die Menschen vor Ort. Man setzt also positive Leistungsanreize. Dann entsteht Vertrauen, Leistung wird belohnt und Bürokratie kann zurückgedrängt werden.

Vorhin sagten Sie, es gehe allen nur ums Geld.

Mit Geld könnte man die richtigen Anreize setzen. Stattdessen sehen wir in Deutschland viele Krankenhäuser, die von Insolvenzen betroffen oder zumindest gefährdet sind. Und ich verstehe den Gesundheitsminister so, dass das politisch gewollt ist, damit es am Ende weniger Krankenhäuser gibt. Das erschüttert mich nicht nur als Verantwortungsträger im System, sondern auch als Bürger, wenn wir meinen, unsere Strukturprobleme über Insolvenzen im Gesundheitswesen zu regeln. Das ist doch ein Armutszeugnis! Und es blendet die systemischen Risiken aus, die damit verbunden sind.

Gesundheitsminister Lauterbach argumentiert, seine Pläne für die Krankenhausreform würden Insolvenzen verhindern.

Bei diesem Amt - da geht es mir nicht um die Person - ist doch die entscheidende Frage: Bringt man Leadership auf die Straße? Wie kommuniziert man in Zeiten der größten Krise, des gesellschaftlichen Umbruchs? Kann man die Menschen mitnehmen und verschiedene Vorschläge zusammenbringen? Wenn man das nicht macht, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass es Widerstand gibt. Sich einen Reformplan auszudenken und nicht einzubeziehen, was viele Kenner der Materie - vor allem die Praktiker - sagen, was sie vielleicht an Wissen einzubringen haben, erschwert eine Reform. Klar, die Politik stellt Regeln auf, aber diejenigen, die eine Transformation umsetzen müssen, das sind doch die Leute vor Ort, die bei den Patienten sind. Ohne die kann es nicht gelingen. Das muss ich doch wissen als Minister. Stattdessen wird das Gesprächsklima schwer belastet, mit sehr vielen Akteuren, auch auf Ebene der Bundesländer. Deshalb steckt das Transparenzgesetz jetzt auch im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Die Länder haben auf so etwas auch keine Lust.

Der Kernpunkt in Lauterbachs Plänen ist ein Wechsel in der Vergütung. Weg von den Fallpauschalen, also der Bezahlung pro Patient, hin zu mehr Vorhaltevergütung - die Kliniken sollen also dafür bezahlt werden, dass sie bestimmte Leistungen vorhalten. Dafür soll nicht jedes Haus alles machen. Halten Sie das nicht für richtig?

Grundsätzlich ist eine Fokussierung sinnvoll. Aber nach jetzigem Stand soll Geld nur umverteilt werden. Die Krankenhäuser erhalten demnach 40 Prozent ihres Budgets für Vorhaltung und 20 Prozent für die Pflege. Das sind also quasi fixe Posten. Dann bleiben ja immer noch 40 Prozent, die leistungsabhängig vergütet werden. Was, glauben Sie, bedeutet das für die kleineren Kliniken auf dem Land? Die müssen für die 40 Prozent noch mehr strampeln als bisher, weil sie ja weniger Leistungen anbieten sollen. Das Konzept ist einfach nicht zu Ende gedacht. Was für Großstädte wie Berlin oder München gilt, passt oft nicht für den Bayerischen Wald oder die Eifel. Man müsste kleinen Häusern auf dem Land mehr Vorhaltung bezahlen und die großen Kliniken, die ohnehin immer voll sind, mehr nach Leistung.

Was passiert, wenn die Reformpläne des Gesundheitsministers scheitern?

Das bleibt Spekulation. Denn die Frage ist doch, welche Art von Reform? Außerdem löst diese Reform nicht die aktuell drängenden Fragen. Welche Kliniken wird es überhaupt noch geben, wenn die Reform wirksam wird? Aktuell sieht es so aus, dass es weiter bergab geht. Wir brauchen mehr Sinn für Realität und weniger Ideologie.

Klinikkonzerne haben in Deutschland nicht unbedingt ein positives Image. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Das Image liegt nicht an der medizinischen Qualität, die ist überdurchschnittlich. Aber man braucht in Deutschland immer Schuldige. Die Verantwortung für Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen, besonders bei den Krankenhäusern, lädt man deshalb bei den Konzernen ab. Das sind die, die nur diesen vermeintlich bösen Profit wollen. Durch dieses Narrativ, das von Teilen der Politik genährt wird, ist das Verhältnis zwischen der Branche und der Öffentlichkeit schon belastet.